Israel in Egypt

Ein Beitrag von KMD Rudolf Kelber

Entstehung

Georg Friedrich Händel begann mit der Arbeit an dem Oratorium Israel in Egypt entsprechend seinen eigenen Angaben im Autograph am 1. Oktober 1738 und beendete das Werk am 1. November 1738. Von den drei Teilen schrieb er den zweiten (Exodus) und dritten (Moses‘ Song) neu, für den ersten (The Lamentation of the Israelites for the Death of Joseph) verwendete er das textlich nur unwesentlich überarbeitete Funeral Anthem HWV 264. Er wollte diese zwei Jahre vorher für die Beerdigung der Königin Caroline geschaffene Gelegenheitsarbeit bewahren, in dem er sie in ein unabhängiges neues Werk einzubinden versuchte. Die ursprüngliche Absicht, das Funeral Anthem im Saul zu verwenden, verwarf er. Stattdessen begann er nach dem Abschluss des Saul mit der Komposition des dritten Teils, also Moses‘ Song, der nach 11 Tagen vollendet war. In der Zeit vom 15. bis zum 20. Oktober entstand dann Teil II. Als er diesen komponierte, war sich Händel bereits über die endgültige Form und Reihenfolge des Werkes im klaren. Ob ein Librettist mitgearbeitet hat, ist nicht mit Sicherheit zu ermitteln. Es gibt Anhaltspunkt, dass Charles Jennens, der die Bibeltexte für „The Messiah“ zusammengestellt hat, auch bei „Israel“ mitwirkte. Jedenfalls gibt es bei diesen beiden Stücken keine freie Dichtung, sondern nur kundig zusammengestellte Texte aus der Bibel. Auch das übernommene Funeral Anthem basiert auf einzelnen Bibelstellen, die der Sub-Dean von Westminster Abbey für den ursprünglichen Anlass gesucht und etwas angepasst hat.


Aufführungen

Die Uraufführung fand am 4. April 1739 im King‘ Theater (Theatre in the Haymarket) statt. Im gleichen Monat gab es weitere Aufführungen am 11. und 17., ein Jahr später spielte man noch einmal am 1. April Israel in Egypt. The London Daily Post kündigte die Premiere am gleichen Tag an „At the Kings Theater…. This Day…. Will be perform’d a New Oratorio, call’d Israel in Egypt. With several Concerto’s on the Organ, and particularly a new one". Welche Orgelkonzerte gespielt wurden, kann man nicht mehr feststellen, das neue war vermutlich dasjenige in F-Dur HWV 295, das laut Eintrag im Autograph am 2. April fertiggestellt wurde. Darüber, wie die Aufführung beim Publikum angekommen ist, gibt es keine Quellen. Jedoch ist eine Anzeige in der Zeitung vom 10. April aufschlussreich: „Hay-Market…. Tomorrow….. Israel in Egypt. Which will be shortened and intermix’d with Songs".

Fassungen

Händel überarbeitete das Werk 1756 und führte es in einer neuen Fassung, die den ersten Teil mit Teilen aus Solomon, dem Peace Anthem und Occasional Oratorio ersetzte, in Teil 2 und 3 einzelne Chöre kürzte oder wegließ und Arien aus anderen Oratorien einfügte. Auch diese Aufführungsserie erreichte nur vier Vorstellungen (17. und 24. März 1756, 4. März 1757 und 24. Februar 1758)
Ob Händel mit den Änderungen auf strukturelle Schwächen des Stückes reagierte, können wir nur vermuten. Jedenfalls ist der Überhang der Chöre das Alleinstellungsmerkmal dieses Oratoriums. Vier Rezitativen, vier Arien und drei Duetten stehen in der Urfassung 32 Chöre gegenüber. Ein solches Verhältnis ist in der gesamten Oratoriengeschichte einmalig. Dies war Händels Konzept für ein eine dem Sujet entsprechende monumentale Darstellung der Exodus-Geschichte. Der Chor übernimmt über lange Strecken die Rolle des Erzählers. Die Solisten sind - mit Ausnahme Mirjams - keine dramatischen Personen, und es gibt keine Da Capo-Arien. Die Da Capo-Form gehört der Oper an und wurde in der englischen Kirchenmusik, wie beispielsweise dem Anthem nicht verwendet. Israel in Egypt in seiner Originalgestalt grenzt sich also deutlich von der Oper ab. Zum ganz großen Erfolg hat dies aber nicht geführt. Israel liegt mit 11 Aufführungen zu Händels Lebzeiten im ranking der Oratorien im Mittelfeld.

Soziologie

Die englische Gesellschaft des aufblühenden Empire sah sich als erwähltes Volk. Deshalb sind Händels alttestamentliche Oratorien so gut angekommen und so erfolgreich, weil sich Great Britain in der Analogie zum Volk Israel spiegeln konnte. Händels Oratorien fungierten in gewisser Weise als Ideologiegeber des Empire und gaben Juden und Christen gleichermaßen Ansatzpunkte für Identifikation. Im 19. Jahrhundert wurde Israel in Egypt – mit auch durch den Einsatz Felix Mendelssohn Bartholdys für das Werk - sehr beliebt. Das mag damit zusammenhängen, dass die Chöre gegenüber den barocken Arien als weniger zeitgebunden und daher veraltet empfunden wurden. Auch kam das Stück dem Streben nach Monumentalität und der aufblühenden Chorbewegung entgegen. Jedenfalls hatte „Israel“ in England im 19. Jahrhundert teilweise höhere Aufführungszahlen als „The Messiah“. Die Relevanz für heute ist unstrittig: Das Sujets ist groß, die Geschichte aus dem Alten Testament ist dramatisch, sie ist mythologisches Urgestein. Israel in Egypt erzählt die Befreiungsgeschichte des jüdischen Volkes, die im Passahfest alljährlich identitätsstiftende Erinnerung erfährt. Bezüge zur aktuellen Nahost-Politik könnten problematisch sein, von einer politisch aktualisierten szenischen Aufführung wird abgeraten. Sie war auch nie geplant. Wegen der relativen Opernferne des Stückes (s.o.) haben szenische Aufführungen dieses Stücks ohnehin kaum oder gar nicht stattgefunden.

Aufführung

Aber auch für eine konzertante Aufführung von „Israel in Egypt“ ist der Aufwand relativ hoch. Die Orchesterbesetzung ist mit Trompeten und Posaunen, Oboen, Flöten, Streichorchester und großem Continuo die größte, die Händel verlangt. Und obwohl die Solisten relativ wenig zu tun haben, braucht man doch zwei Sopran- und zwei Basssolisten, für Alt und Tenor jeweils nur einen. Die Einstudierung des Chorpartes ist die größte Herausforderung. Man muss die vielen Bilder erkennen, prägnant musikalisch-gestisch umsetzen und dadurch auch für den einzelnen Chorsänger Identifikationspunkte schaffen, die das interpretatorische Gedächtnis stützen. Werden bei einem so großen Oratorium nur die Noten perfekt ausgeführt, ist das zu wenig. Die sprachliche Ebene, die Deutlichkeit der Mitteilung ist unabdingbar für das Gelingen. Und das in einem Englisch mit eigenartig altertümlichen grammatikalischen Formen, Imperfektformen mit stärkeren Beugungen als im modernen Englisch, zusätzlichen Endungs-Th’s und dergleichen Hürden mehr.

Hatten die praktischen Ausgaben der Händel-Oratorien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur deutschen Text, waren sie in der zweiten Hälfte meist zweisprachig, so ist heute eine Ausführung in der englischen Originalsprache eigentlich selbstverständlich. Die neuesten Ausgaben bei Bärenreiter und Carus bringen nur noch den englischen Text. Für die adäquate Darstellung ist dies sicher ein gewinnreicher Verlust. Die King-James-Bible kommt zwar an die Prägnanz und dichterische Qualität der Lutherübersetzung für das Deutsche nicht ganz heran, aber sie korrespondiert so wunderbar mit der Musik, dass man dem Mann aus Halle in Sachsen-Anhalt, der wohl besser italienisch und französisch sprach als englisch, doch das Grab in Westminster Abbey (belassen möchte) gönnen könnte.